In Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete
Mitscherlich heißt es einmal: "Natürlich ist der Versuch,
sich von quälender Erinnerung an Schuld und Scham abzusetzen, ein
allgemein menschliches Bedürfnis".
Es ist eine ihrer Anfangshypothesen. Davon ausgehend, untersuchen sie
das Funktionieren und die Wirkweise dieser Abwehrmechanismen. Das war
auch unser Vorhaben bei diesem Film. 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm
weiß ist ein rein emotionaler Film, ein Familiendrama. Es ist
kein Geschichtsfilm, sondern es geht darum, was emotional in der
kleinen Welt einer Familie passiert, wenn der Ausstieg aus der
Geschichte probiert wird. Wie werden die Familienmitglieder damit
fertig oder nicht, wenn ihre eigene Geschichte und das
Handeln des Vaters, eines verurteilten und hingerichteten
Kriegsverbrechers, ausgeblendet oder umgedeutet werden.
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Iva Švarcová
Welche Belastung es für Malte Ludin bedeutet hat, aus der
Normalität dieses Reflexes herauszutreten, sich selbst und seine
Nächsten mit dieser emotionalen Tatsache zu konfrontieren, das
vermag niemand auch nur zu erahnen, weil das bisher einfach noch nie in
einem Film unternommen wurde.
Sie sprechen von Konfrontation. War das der Antrieb für dieses
Projekt?
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Im Gegenteil. Wir zielten nicht auf den Riss oder den Ruck, den
plötzlichen Anstoß. Es war wichtig, dass sich die gesamte
Familie einverstanden erklärt hat, bei dieser Unternehmung dabei
zu sein. Natürlich war das kein Spaziergang, denn es kann doch gar
nicht anders als schmerzhaft sein, wenn sich jemand eingestehen muss:
Ich hatte einen Vater, den habe ich geliebt, der war vielleicht gut zu
mir. Auf der anderen Seite war er ein Mörder. Die Mühsal und
den Mut eines solchen Eingeständnisses zeigt uns dieser Film. Ich
glaube, dass jeder, der ein Stück weit Gefühl hat, zumindest
Hochachtung für die Schonungslosigkeit und Konsequenz haben wird,
mit der der Filmemacher auch sich selbst ins Schussfeld begibt, wo man
sich nicht mehr auf dem sicheren Boden von Meinungen und Statements
bewegt, sondern nur noch seine eigene Ambivalenz offenbaren kann.
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In der Begegnung mit Tuvia Rübner, einem Überlebenden des
Holocausts, stellt Malte Ludin sich vor und sagt: Ich bin der Sohn von
Hanns Ludin, der 1941 dort und dort war und die und die Funktion
ausgeübt hat. Und dann erwidert Tuvia Rübner: Also dann war
er derjenige, dem meine ganze Familie zum Opfer gefallen ist. Mit
dieser Situation kann ich natürlich sehr schwer umgehen, ja! Aber
es ist wichtig und richtig, dass diese so schwer zu ertragende
Situation ungeschnitten, so wie sie sich eben zugetragen hat, im Film
zu sehen ist. Ich habe so etwas in einem Film noch nie gesehen,
dass ein Täterkind sich selbst und aus freien Stücken
konfrontiert mit einem Opferkind und diese beiden Männer
miteinander reden. Das ist eine große emotionale Leistung beider.
Sie hätten auch aufeinander schießen können.
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Wie haben Sie die drei Vertreter der Opferseite "besetzt"?
Den Herrn Professor Stern und die Frau Alexandrova habe ich in
Bratislava gesucht und gefunden. Es ist natürlich nicht einfach,
ein Opfer zu finden, das dazu ist, sich mit einem Täter ins Gespräch
zu begeben. Tuvia Rübner hat Malte Ludin selbst gefunden. Die
Hauptaufgabe, die wir uns bei der Auswahl der Protagonisten gestellt
haben, war es, Personen zu finden, die noch in der Lage sind,
authentisch zu berichten, statt sich durch das wiederholte
Erzählen eine eigene Realität geschaffen zu haben, die sie
zwischen ihre Gefühle und die erlebten Tatsachen schalten. Vor
ein paar Tagen bin ich gefragt worden, warum wir Tuvia Rübner
dieses Gedicht vortragen lassen, das er über seine kleine
Schwester geschrieben hat.
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Eine Frage, die mir völlig
unverständlich ist, denn er hat immer, auch mit 75 noch, seine
kleine Schwester von damals vor Augen, die zu klein war, mit ihm nach
Palästina zu gehen, weil das für zu gefährlich gehalten
wurde, die aber nicht zu klein war, um in Auschwitz in einer Gaskammer
umgebracht zu werden. Das hat ihn für sein Leben gezeichnet.
Nach welchen Überlegungen haben Sie die Bilder für die
Gesprächssituationen eingerichtet?
Wir haben lange mit Franz Lustig, dem Kameramann, darüber
diskutiert und uns dann für das schwierige Vorhaben
entschieden, alles aus der Hand zu drehen. Ich finde jede Zuckung und
jedes Atmen der Kamera absolut wichtig. Wir konnten uns nicht
vorstellen, dass die Schwestern da hadern und kämpfen und wir
schauen durch schön kadrierte Bilder zu.
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Die einzige Ausnahme
bildet das Gespräch mit Barbel. Das ist komplett vom Stativ gedreht,
zuerst nur aus einem ganz pragmatischen Grund: Sie wollte nicht, dass
außer Malte noch irgendjemand mit im Raum war, weil sie Angst
hatte, von ihren Emotionen überwältigt zu werden. Also wurden
der Bildausschnitt festgelegt und die Kamera angeschaltet. Erst
später ist uns aufgegangen, dass dieses Statische auch sehr
zu ihr passt. Sie ist ja tatsächlich, auch innerlich, ganz
statisch.
Mussten Sie oder Malte Ludin sich mit diesem Film dem
Vorwurf der Nestbeschmutzung erwehren?
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Ein solcher Vorwurf kann eigentlich nicht zum Tragen kommen, denn es
ist ja offensichtlich, dass Maltes Anstrengungen eher von einem
Bemühen um Verständigung zeugen, als dass er etwas
vergiften oder jemanden anklagen wollte. Den Schwestern ging das
Insistierende vielleicht auf die Nerven, aber Malte ist kein Feind
für sie. Worum es in 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß
ging: Maltes Schwestern leiden genauso wie er selbst unter dem, was
ihr Vater getan hat, sie versuchen aber, um damit leben zu können,
verschiedene Formen der Negierung, Umdeutung, Verschleierung zu finden.
Wir haben uns mit diesem Film vorgenommen, diese Prozesse zu
beobachten, auszuhalten und zu reflektieren. Durch diesen Film habe ich
gelernt, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen einem
kognitiven Wissen und einem Gefühlswissen.
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Du kannst etwas wissen
und doch nicht wissen. Das zeigt ja auch dieser Film. Alle
Familienmitglieder wissen ja alles, sie kennen die Akten. Und wir
selbst wissen ja auch alles, aber dennoch reagieren wir in ganz
unterschiedlicher Form. Psychologische Abläufe zu beobachten oder gar zu erzeugen, scheint
ein Hauptanliegen dieses Projektes gewesen zu sein.
Tatsache ist, dass sich in der Familie Ludin - und das ist nur ein
Beispiel für viele andere Familien - bisher niemand aufrichtig der
Tatsache gestellt hat, was der Vater oder der Opa während der
Nazizeit gemacht hat. Was macht diese Ausklammerung, die ja nicht nur
zufällig geschehen ist, sondern systematisch betrieben wurde,
mit denen, die damit leben? Und weil dieses Vorhaben so direkt die
Emotionalität der Protagonisten ins Zentrum rückt, hatten
wir auch einen psychologisch geschulten Berater dabei.
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Was war dessen Aufgabe?
Beistand und Beratung. Es war zum Beispiel so, dass es
während des Drehens zu emotionalen Übersprungshandlungen kam,
weil wir ja nicht nur ein Thema äußerlich abhandelten, sondern buchstäblich alle
- also wir selbst, die Mitarbeiter und die Protagonisten - mit dem zu
kämpfen hatten, worum es im Film geht. Da haben sich
unwillkürliche Abwehr aufgebaut, unbewusste Bremserei oder auch
Angst und Aggression: als Barbel in dem Film sagt, ich bin kein
Täterkind, da war der Toningenieur einfach nicht da, d. h. wir
haben nur den Kameraton gehabt. Da sind wirklich die irrsinnigsten
Sachen passiert. Oder: Der Kameramann Franz Lustig hat es manchmal
nicht ausgehalten, dass Malte so insistierte, weil er sich selber
befragt sah.
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Es war hochspannend. Und später beim Ausmustern und beim Schnitt
war für uns Supervision ebenfalls unverzichtbar: Die
psychologische Beratung diente schlicht der Navigation bei der
Zerreißprobe zwischen Loyalität gegenüber der Familie
und Loyalität gegenüber der Wahrheit.
Warum wehren sich die Schwestern so vehement dagegen, sich einfach als
Täterkinder zu bekennen?
Ich denke, der Film zeigt, dass das eben nicht einfach ist! Oder kennen
Sie irgendjemanden, der diesen Schritt so ohne weiteres getan hat? Was
2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß auch sehr deutlich zeigt,
ist die zentrale, ja steuernde Rolle der Mütter. Welche
Möglichkeiten hatte Maltes Mutter nach 1945 oder 1947, nachdem der
Vater durch Strangulation hingerichtet wurde? Sie besaß zwei
Möglichkeiten, entweder die Witwe eines Kriegsverbrechers zu sein
oder die Witwe eines Helden.
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Und da hat sie sich natürlich
dafür entschieden, die Witwe eines Helden zu sein. Und mit diesem
Glauben, er sei ein Held gewesen, hat sie auch ihre Kinder, vor allem
ihre Töchter, bis in deren Innerstes geprägt. In diesem
Fernsehinterview, das Christian Geisler 1978 mit ihr geführt hat,
wird ja deutlich, dass sich ihre Sichtweise bis zu diesem Zeitpunkt
erhalten hat. In diesem Gespräch erinnert sie sich eigentlich
nicht, sie wickelt ihn mit ihrem großbürgerlichen Charme
ein. Das war für mich persönlich das ebenso Schockierende wie
Aufschlussreiche an diesem Material, dass sie selbst 30 Jahre
später nicht einen Funken von Mitleid zeigen kann oder auch nur
ansatzweise äußert, dass es vielleicht Sachen gab, die nicht
richtig waren. Nein, sie erinnert sich, dass sie damals einmal gedacht
hat: "Wir hätten die Juden alle einsperren sollen, weil sie uns
aus dem Ausland so sehr schaden", und diese Haltung ist in ihr immer
gegenwärtig geblieben.
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Wäre es denkbar gewesen, dass die Schwestern mit nach Bratislava
gekommen wären?
Natürlich haben wir versucht, sie davon zu überzeugen, mit
uns gemeinsam nach Bratislava zu fahren. Wir wollten mit ihnen einen
kleinen Spaziergang durch das Viertel machen, in dem sie aufgewachsen
sind, und wir wollten auch auf den Friedhof gehen, auf dem ihr Vater
liegt. Das hat sich aber als absolut unrealisierbar herausgestellt.
Am Ende des Films steht Malte dann allein am Grab. Das ist traurig,
aber immerhin ist es ihm gelungen, diesen Schritt zu machen, und
immerhin hat er seine Neffen und Nichten befragt, und die hatten alle
die Möglichkeit, sich zu äußern. Es existiert eine ungeheure
Dynamik in der Familie.
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Das heißt, es ist etwas aufgebrochen, und
die nachfolgenden Generationen werden dann wählen können
zwischen der Interpretation von Barbel und der Interpretation von
Malte, und allein dafür hat sich diese Arbeit gelohnt. Wie sagt
Astrid, die Tochter von Maltes verstorbenem Bruder so schön im
Film: "Ich mache das hier für meinen Sohn. Ich möchte nicht,
dass er sein ganzes Leben immer versucht, irgend etwas herauszufinden
und nicht weiß, woran er ist, wie ich das tun musste."
Hatten Sie das Gefühl gehabt, dass man bei den Ludins vielleicht auch in der Hoffnung lebt, dass diese alte Geschichte jetzt sechzig Jahre zurückliegt, also schon ziemlich weit weg ist. Und wenn das jetzt alles noch ein bisschen schlimm ist, dann lassen wir einfach zehn weitere Jahre vergehen, dann wird es sich hoffentlich von allein erledigt haben?
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Natürlich ist es - nicht nur bei den Ludins - verbreitet, zu
sagen: Ich will damit jetzt endlich nichts mehr zu tun haben! Das
klingt, als hätte man sich jahrelang intensiv damit
auseinandergesetzt. Tatsächlich ist es ja aber so, dass die, die
so etwas sagen, sich in den meisten Fällen dieser
Auseinandersetzung noch nie gestellt haben. Ich denke, das Ausmaß der
Hitler-Katastrophe dokumentiert sich auch darin, dass ein
beispielhaftes Schicksal wie das von Hanns Ludin noch heute, sechzig
Jahre nach dem Ende des Krieges, unter seinen Kindern und deren Kindern
eine akute und ganz kontroverse Rolle spielt. In Maltes Familie ist
nichts erledigt und niemand hat vergessen.
Das Interview führte Ralph Eue
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